“Wissen schützt”


Das Suchtpotenzial von Computerspielen wird in den Medien gerne zugespitzt thematisiert. Der Schuldige ist schnell gefunden und als schädlich entlarvt. Woran es jedoch den meisten Berichten über Computerspielsucht mangelt, ist, was Eltern unternehmen können, wenn ihr Kind Anzeichen einer Sucht in der Mediennutzung aufweist. Christoph Hirte, selbst Vater eines Betroffenen, ist Betreiber der Internetseite „rollenspielsucht.de“ und bietet ratsuchenden Eltern so die Möglichkeit sich über das Thema „Computerspielsucht“ zu informieren und auszutauschen.

Herr Hirte, welchen Bezug haben Sie zum Thema „Computerspielsucht“?

Bis vor zirka vier Jahren haben wir noch nicht einmal gewusst, dass es so etwas überhaupt gibt. Bis zum Februar 2007, als wir erfuhren, dass unser damals 22-jähriger Sohn, der 600 km von uns  entfernt Informatik studiert hatte, dem Onlinerollenspiel ‚World of Warcraft‘ vollkommen verfallen war. Sein Studium hatte seit vielen Monaten schon nicht mehr stattgefunden, er hatte sämtliche Kontakte zur Außenwelt abgebrochen und lebte fast ausschließlich nur noch in der virtuellen Welt. Zuerst waren wir dieser für uns völlig neuen Situation hilflos ausgeliefert und verzweifelt, weil wir unserem Sohn, der eine Therapie strikt ablehnte, nicht helfen konnten. Immer wieder dachten wir: ‚Wenn wir früher gewusst hätten, dass es so etwas gibt, hätten wir vielleicht verhindern können, dass es so weit kommt.‘

So beschlossen wir andere Eltern zu diesem Thema aufzuklären, sie zu informieren, was passieren kann, wenn ein junger Mensch die Kontrolle über seinen PC-Konsum und damit schließlich auch die Kontrolle über sein Leben verliert. Unser Motto: ‚Wissen schützt‘. Nur wer über das Ausmaß und die verheerenden Auswirkungen dieser Krankheit umfassend informiert ist, kann aufmerksam beobachten, sich frühzeitig einmischen und konsequent handeln.

Was ist das besondere an Ihrem Internetangebot „rollenspielsucht.de“?

Unsere Internetplattform www.rollenspielsucht.de ist eine Initiative betroffener Eltern. Unsere persönliche Geschichte und unsere eigene Betroffenheit ermutigt andere betroffene Angehörige, ihre eigene schwierige Situation zu schildern und sich ausführlich mit den umfangreichen Informationen auseinander zu setzen, die wir im Laufe der letzten dreieinhalb Jahre zusammengetragen haben. In unseren Foren erfahren Sie, was in den Familien wirklich los ist und worüber fast niemand spricht. Im September 2008 haben wir ergänzend dazu das Selbsthilfeportal ‘AKTIV GEGEN MEDIENSUCHT’ als Verein gegründet (www.aktiv-gegen-mediensucht.de), eine ‚Initiative zur Verhinderung von Mediensucht durch aktives Handeln‘ unter dem Motto: ‚Der Missbrauch von elektronischen Medien soll so unpopulär wie Alkohol- und Drogenmissbrauch werden.‘ Wir haben den Anspruch jedem, der sich hilfesuchend an uns wendet, eine Adresse zu nennen, bei der er Unterstützung finden kann. So reifte allmählich die Idee, sämtliche für Mediensucht zuständigen Stellen in einer umfangreichen und für alle zugänglichen Datenbank zu sammeln. Über dieses Netzwerk für Ratsuchende (www.netzwerk-fuer-ratsuchende.de) können von Mediensucht betroffene Familien schnellen Rat und Hilfe finden.

In den Medien wird besonders häufig das Spiel „World of Warcraft“ mit Onlinespielsucht in
Verbindung
gebracht. Führen solche MMORPGs wirklich eher zur Sucht und wenn ja, wieso?

Das Raffinierte an MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) ist, dass der Spieler nicht nur im Alleingang seine Aufgaben ausführt, sondern sich einer Gruppe (Gilde) anschließen kann, um gemeinsam mit anderen Mitspielern die schwierigen ‘Raids’ (zu deutsch: Überfall, Raubzug) zu bestreiten. Wer sich verbindlich zu einem Kampf anmeldet, muss online gehen, ansonsten kann die geplante Aktion nicht stattfinden. Jeder Spieler hat beim Kampf eine unverzichtbare Aufgabe und bringt die Mitspieler in immense Schwierigkeiten, wenn er ungeplant fehlt. Dies übt einen starken Gruppenzwang auf die Spieler aus und kann dazu führen, dass das reale Leben dem virtuellen ‘Terminplan’ untergeordnet wird und unmerklich, fast schleichend, immer mehr an Bedeutung verliert. Durch das Zusammensein mit der Gilde und die miteinander durchgestandenen Abenteuer entsteht im Laufe der Zeit ein immenses Wir-Gefühl und eine Schein-Nähe, die in manchen Fällen die sozialen Kontakte zu Freunden und zur eigenen Familie ersetzt. Die Onlinerollenspielwelt steht nie still. Wer offline geht, hat immer das Gefühl, etwas zu verpassen. Außerdem ist z.B. bei WoW beim Ersteigern wichtiger Ausrüstungsgegenstände die investierte Spielzeit ein Hauptkriterium. Wer am längsten und ausdauerndsten online ist, hat die größten Chancen, beim Verteilen der ‘Beute’ bevorzugt an der Reihe zu sein.

Das Belohnungsprinzip bei MMORPGs ist ebenso ein Bestandteil des hochgradigen Suchtpotentials. Wer das Spiel neu beginnt, bekommt zuerst einmal seine Belohnung garantiert und kann sich für die ersten Level sehr rasch und erfolgversprechend hocharbeiten. Im Laufe des Spieles aber erscheinen die Belohnungen eher unzuverlässig und dieses Prinzip verleitet dazu, dieselbe Aktion immer und immer wieder auszuführen, in der Hoffnung beim nächsten Mal der ‘glückliche Gewinner’ zu sein. Selbst Aussteiger, die bereits mehr als ein Jahr nicht mehr gespielt haben, berichten uns, dass es ihnen nach wie vor schwer fällt auf das Belohnungsprinzip, das sie während des Spielens in einen permanenten Glücksrausch versetzt hatte, zu verzichten. ‘Unser Gehirn ist nicht dafür gebaut, dauernd glücklich zu sein. Aber es ist süchtig danach, nach Glück zu streben’ sagt der Psychiater und Psychologe Dr. Manfred Spitzer. Ein Aussteiger schrieb uns: ‘Ich rate, mit diesem Spiel gar nicht erst anzufangen. Es macht einen krank. Andere werden erwachsen, doch man selbst entwickelt sich zurück.’ Die Aggressionskriege in den Familien werden durch die Firmen Lego und Playmobil, die an der Fertigstellung von Onlinerollenspielen für Grundschulkinder arbeiten, die ähnlich aufgebaut sein sollen wie WoW, bisher ungeahnte Ausmaße annehmen.

Ab wann ist Computerspielnutzung Ihrer Meinung nach krankhaft?

Wenn das wirkliche Leben sich dem PC und dem Internet unterordnet, statt dass die PC-Nutzung sich in das Tagesgeschehen einfügt. Den süchtigen Nutzer zieht es zwanghaft an den PC und obwohl sein Verhalten massive negative Konsequenzen hat, wie beispielsweise zu Erledigendes, das liegen bleibt, Vermüllen der Wohnung, Absinken der Schulnoten, Zerbrechen der Ehe, Gefährdung des Arbeitsplatzes durch Übermüdung, Verlust des Ausbildungsplatzes etc., schafft er es nicht, seinen Konsum einzuschränken. PC-Entzug führt zu Unruhe, verstärkter Aggression, Schweißausbrüchen, Panik, adäquat dem Entzugsverhalten bei stoffgebundenen Süchten.

Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind Computerspielsüchtig ist? Gibt es erste Anzeichen?

Das rapide Absinken der Schulleistungen ist ein Alarmsignal. Alle Exzessiv-Spieler haben linear zur Spielzeit schlechtere Noten und weisen auffallend hohe Fehlzeiten auf. Ganz symptomatisch sind dunkle Augenringe, oft wird nachts durchgezockt bzw. durchgechattet, ohne dass die Eltern es wissen. Meist spielt die Körperhygiene nur noch eine untergeordnete Rolle, das Äußere wird vernachlässigt und auch die Klamotten werden zunehmend unwichtig. Ein deutliches Symptom dafür, dass sich die Prioritäten des Kindes zugunsten des Computers verlagern, ist, wenn das Kind sämtliche Kontakte zu Freunden vernachlässigt oder gar allmählich abbricht. Offline-Veranstaltungen, die aktive Teilnahme in einem Sportverein, Treffen mit anderen Gleichaltrigen, verlieren an Bedeutung und die Freizeitaktivität des Kindes reduziert sich mehr und mehr auf das Sitzen am Computer. Starke Gewichtszu- oder abnahme sind meistens die Folge. Ein deutliches Anzeichen, dass das Kind süchtig ist, ist die Zunahme der Aggressionen, besonders bei PC-Entzug. Auch wird der PC-Konsum heruntergespielt, es sei ja nur ein ‘Hobby’.

Was können Eltern unternehmen, wenn ihr Kind Anzeichen der Computerspielsucht aufweist?

Bei jüngeren Kindern ist ein klares Eingreifen und striktes Begrenzen der Spielzeit in Kombination mit Alternativangeboten erforderlich. Klare Gespräche über die Auswirkungen exzessiver Mediennutzung können die Kinder für diese Problematik sensibilisieren. Die Mediennutzungszeiten sollten an das Aggressionsverhalten des betroffenen Kindes gekoppelt werden. Ist das Kind auffallend aggressiv, sollte die vereinbarte Mediennutzungszeit umgehend reduziert, ggf. sogar ganz gestrichen werden. Allerdings sollte das Kind niemals mit ‚mehr spielen‘ belohnt werden! Eltern sollten sich umfassend informieren, um mehr Sicherheit für klare Regeln zu bekommen und auch eine Suchtberatungsstelle aufsuchen, um mehr über Sucht und deren Mechanismen zu erfahren. Es ist äußerst hilfreich, ausführlich das Forum ‘Aussteiger’ bei rollenspielsucht.de zu lesen, um in Erfahrung zu bringen, wie ehemals Betroffene den Ausstieg geschafft haben. Am allerwichtigsten sind parallel zur klaren Spielzeitbegrenzung Alternativangebote (z.B. Rubrik Offline-Angebote auf der Internetseite www.aktiv-gegen-mediensucht.de). Viele Kinder spielen aus Langeweile. Ist das süchtige Verhalten sehr stark fortgeschritten, wird man in jedem Fall nicht ohne die Hilfe von Fachleuten, die Veränderungen herbeiführen können, auskommen. Im Netzwerk für Ratsuchende kann man dazu fündig werden. Siehe auch unser Merkblatt ‘Erste Schritte bei Mediensucht’ (http://www.rollenspielsucht.de/resources/Erste+Schritte+bei++Mediensucht.pdf).

Kann man präventiv gegen Computerspielsucht vorgehen?

Für uns ist verfrühter und ausdauernder Fernsehkonsum schon im Kleinkindalter die Einstiegsdroge. ‘Das zu frühe Heranführen an technische Medienkompetenz führt keinesfalls zu einer kritischeren Mediennutzung, sondern verführt dazu, Momente der Langeweile mit Medien zu stopfen’, sagt Dr. Sabine Schiffer vom Institut für Medienverantwortung. Kinder sollten sich sportlich aktiv betätigen und ihre kreativen Kräfte im realen Leben entfalten dürfen. Nach den Grundschuljahren ist gegen den PC als äußerst sinnvolles und nützliches ‚Werkzeug‘ selbstverständlich nichts einzuwenden. In den meisten Fällen wird er jedoch schon von klein auf als Spielzeug ‚missbraucht‘ und verdrängt in den Familien allmählich jede alternative und entwicklungsfördernde Freizeitbeschäftigung. Eltern sollten ihren Kindern eine zielgerichtete Mediennutzung vorleben. Oft wird vergessen, dass nicht derjenige medienkompetent ist, der die unterschiedlichsten elektronischen Medien auf vielfältigste Weise und zeitintensiv zu nutzen weiß, sondern der, der frühzeitig und selbstbestimmt den Aus-Knopf findet. Die Mediennutzungszeiten der Kinder sollten ohne jeglichen Verhandlungsspielraum geregelt und stark begrenzt werden und sowohl der Fernseher als auch ein PC mit Internetanschluss haben im Kinderzimmer selbstverständlich nichts zu suchen.

Wie denken Sie wird sich das Suchtverhalten vieler Jugendlicher in der Zukunft entwickeln?

Die Mediensucht wird bei den Jugendlichen einen immer größeren Platz einnehmen. Drogen und Alkohol sind bereits als potenzielle Gefahren für Jugendliche in den Köpfen der Gesellschaft verankert, die Mediensucht jedoch wird noch gar nicht als Problem erkannt. Viele Kinderzimmer sind ‚hochgerüstet‘ mit modernster Technik, die dem Kind den uneingeschränkten Gebrauch unterschiedlichster Medien problemlos ermöglicht. Diese sind ständig verfügbar und können jederzeit ohne großen Aufwand genutzt werden – ‚wie Heroin aus der Steckdose‘. Häufig raten etliche Medienpädagogen den besorgten Eltern, eher freizügig mit den PC-Zeiten der Kinder umzugehen, um diesen nicht den erfolgreichen Weg in die berufliche Zukunft zu verbauen. Der Punkt, an dem die Schwelle zur Sucht dann überschritten wird, wird auf diese Weise von den Eltern und auch von den Betroffenen selbst oft viel zu spät erkannt. Über die immensen Probleme der sog. sozialen Netzwerke, über den Umgang mit den neuen Superhandys, die millionenfache Nutzung der Browsergames, wird im Zusammenhang mit Sucht bis jetzt noch gar nicht gesprochen. Was bislang sichtbar ist, ist nur die Spitze des Eisbergs.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft, was wünschen Sie sich für Ihre weitere Arbeit im Kampf gegen Computerspielsucht?

Wir wünschen uns generationsübergreifend eine Bewusstseinsveränderung und eine umfassende Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema. Wir hoffen auf aktive Mitarbeit in unseren Projekten, besonders von denjenigen, die dieses Problem aus leidvoller eigener Erfahrung heraus bis in die Tiefe verstehen. Von der Politik wünschen wir uns, dass das Suchtpotenzial etlicher Spiele (allen voran World of Warcraft), endlich als schwerwiegendes Problem erkannt wird, durch das unsere Gesellschaft zunehmend mehr Schaden nehmen wird. Wir fordern u.a. die Anerkennung der Onlinesucht als Krankheit und eine Höherstufung der Altersgrenzen. Von politischer Seite fehlt uns derzeit flächendeckend das Interesse an diesem Thema. Im Hinblick auf die vielen betroffenen Familien halten wir diese flächendeckende Ignoranz, vielleicht aber auch Hilflosigkeit, für absolut beängstigend. Wir brauchen eine Lobby für Familien und Kinder. Die Lobby der Spieleindustrie darf nicht mehr diese Kraft entfalten.

medienbewusst.de bedankt sich bei Christoph Hirte für das Interview und wünscht weiterhin viel Erfolg!

Frederic Breitrück

Bildquelle: © Johnny Lye – Fotolia.com
Foto zur Verf. gestellt von Christoph Hirte