Gerald Hüther – Medien sind keine Ersatzbefriedigung für ein ungelebtes Leben


Gerald Hüther wurde 1951 in Emleben geboren. Als Professor für Neurobiologe ist er Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und  Mannheim/Heidelberg. Sein Arbeitsgebiet ist die experimentelle Hirnforschung. Dabei geht es auch um die Wirkung von Medien (vor allem im Kindesalter) auf die Gehirnentwicklung. Ein Grund für uns, ein paar Antworten auf entscheidende Fragen zu finden.

Herr Professor Hüther, können Sie uns eine gute Fernsehsendung oder ein gutes Computerspiel für Kinder empfehlen?

Solche Empfehlungen bringen uns auch nicht weiter. Denn dann würden wir eine Oberflächendiskussion über die inhaltliche Qualität der Angebote führen. Die kann dann schnell kontrovers werden. Sie müssen gar nicht lange suchen: Sehr schnell finden Sie fünf Studien, die Ihnen zeigen, wie gut etwa der TV-Konsum für Kinder angeblich ist. Weitere fünf Studien hingegen werden belegen, dass Fernsehen schlecht ist. Diese Debatte ist für Eltern nutzlos. Ich rede deshalb weniger über Inhalte, sondern setzte weitaus früher an. Vor wenigen Jahren noch haben wir Neurobiologen geglaubt, genetische Programme würden im Hirn alles automatisch zusammenstöpseln. Die komplexen neuronalen Netzwerke, die unser Denken, Fühlen und Handeln steuern, hielt man für genetisch programmiert. Inzwischen wissen wir, dass sich nur solche Verknüpfungen im Hirn des Kindes langfristig ausbilden, die auch in der konkreten Lebenswelt regelmäßig aktiviert werden. Das, was ungenutzt bleibt, schrumpelt wieder weg. Die genetischen Programme sorgen dafür, dass zunächst ein großer Überschuss an Nervenzellverknüpfungen produziert wird. Um die wichtigsten neuronalen Schaltkreise im Hirn aufzubauen, brauchen Kinder aber vor allem eines: eigene Körpererfahrungen. Und die sammelt der Nachwuchs nicht vor dem Bildschirm, ganz gleich, welches Programm läuft.

Wie wirkt sich dann TV-Konsum auf das kindliche Gehirn aus?

Unser Hirn passt sich stets an das an, was wir mit Begeisterung tun. Im letzten Jahrhundert haben sich Menschen für Maschinen begeistert und sich mit ihnen identifiziert. Sie haben dieses  Maschinendenken sogar auf sich angewendet. Das färbt auch die Sprache: Noch heute bezeichnen wir unser Herz als Pumpe und reden von verschlissenen Gelenken, die ausgetauscht werden. Nun bricht plötzlich diese neue Epoche an. Es wird zunehmend schwieriger, zwischen Ursachen und Wirkungen zu unterscheiden. Etwa, warum der Pfeil auf dem Bildschirm nach rechts wandert, wenn wir die Maus bewegen. Dieser Mangel an Sinnzusammenhängen hat zur Folge, dass Kinder irgendwann nicht mehr nach Kausalitäten fragen. Das ist eine einfache Konsequenz der menschlichen Gehirnentwicklung. Die Kinder lernen quasi, dass sie Dinge hinnehmen müssen, ohne den Sinn dahinter zu begreifen. Viele digitale Medienangebote sind nicht nur nicht verstehbar, sie sind auch nur eingeschränkt gestaltbar. Das einfachste Beispiel: Sie können beim TV-Gerät nichts weiter verändern als die Programmwahl. Wenn man kleine Kinder das erste Mal vor den Bildschirm setzt, unterhalten sie sich noch mit dem Apparat. Sie sagen dem Hasen, wo der Fuchs lauert. Sie versuchen also etwas zu gestalten. Das hat sie ihre bisherige Erfahrung – ohne virtuelle Medien – gelehrt. Nach wenigen Wochen Fernsehkonsum resignieren die meisten, ihr Gestaltungswille versiegt. Sie stellen also einen Teil ihrer Selbstwirksamkeit in Frage.

Und was passiert bei übermäßigem Computerkonsum im Gehirn?

Wenn Kinder und Jugendliche täglich mehrere Stunden vor ihrem Computer verbringen, verändert das nicht nur ihre Wahrnehmung, ihr Raum- und Zeitempfinden und ihre Gefühlswelt. Alles, was sie in den Computerspielen erleben, verändert auch ihr Gehirn.

Inwiefern?

Die Art und Weise, wie ein Kind sein Gehirn benutzt, ist entscheidend dafür, wie die Nervenzellen im Gehirn miteinander verknüpft werden. Wer sehr viel Zeit in virtuellen Welten oder im Internet verbringt, dessen Gehirn passt sich immer besser an das an, was dort geschieht und was vom Nutzer gefordert wird.

Das bedeutet, unser Gehirn wird so, wie wir es benutzen?

Ja, und das gilt vor allem für das Gehirn von Kindern und Jugendlichen. Bei ihnen wird in der Großhirnrinde zunächst ein riesiges Überangebot an Nervenzellverbindungen bereitgestellt. Stabilisiert und erhalten bleiben davon aber nur diejenigen, die auch wirklich benutzt, das heißt häufig genug aktiviert werden. Der Rest wird wieder abgebaut.

Vielleicht zum Abschluss noch ein persönlicher Ratschlag, den Sie den Eltern mitgeben können?

Kinder und Jugendliche brauchen Aufgaben, an denen sie wachsen können und Gemeinschaften, in denen sie sich geborgen fühlen. Wenn sie das im realen Leben finden, ist der virtuelle Ersatz unattraktiv. Die modernen Medien sind wunderbare Werkzeuge, mit denen wir sehr vieles gestalten können. Aber eines sollte man damit nicht machen, sie als Ersatzbefriedigungen für ein ungelebtes Leben einsetzen. Das gilt allerdings auch für Eltern…

medienbewusst.de bedankt sich bei Professor Gerald Hüther für das Interview und wünscht weiterhin viel Erfolg!

Gerne möchten wir noch auf aktuelle Projekte von Professor Gerald Hüther verweisen:

www.win-future.de
www.nelecom.de
www.sinn-stiftung.eu

Anna Korngiebel