Immer wieder hört man in den Medien, welch enormes Suchtpotenzial vom Internet für Kinder und Jugendliche ausgeht. Die Studie „Stress und Sucht im Internet“ der Berliner Humboldt-Universität aus dem vergangenen Jahr ergab jedoch, dass weniger Jugendliche als bisher angenommen eine zwanghafte Internetnutzung aufweisen. Auf die leichte Schulter nehmen, sollte man das Phänomen trotzdem nicht.
Die JIM- Studie 2009 vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest hat ergeben, dass in Deutschland nahezu allen 12- bis 19-Jährigen ein Internetzugang im Haushalt zur Verfügung steht. 90 Prozent der Jugendlichen gehen mehrmals in der Woche bis täglich ins Internet. Die durchschnittliche Nutzungsdauer beträgt nach Schätzung der Befragten 134 Minuten. Bei Mädchen und jungen Frauen fällt die Selbsteinschätzung mit 121 Minuten um 25 Minuten geringer aus als bei ihren männlichen Altersgenossen. Und auch zwischen der jüngsten und der ältesten Gruppe variiert die Internetnutzung stark. So beträgt sie bei den 12- bis 13-Jährigen 89 Minuten, während es bei den 18- bis 19-Jährigen 162 Minuten sind.
Sabine Meixner, Diplompsychologin an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitarbeiterin der Studie „Stress und Sucht im Internet“, vertritt den Standpunkt, dass ab einer Nutzungsdauer von etwa 35 Stunden pro Woche von ‚Sucht’ gesprochen werden könne. Dabei merkt sie allerdings an, dass nur etwa 1,4 Prozent der 12- bis 24- Jährigen als ‚süchtig’ bezeichnet werden könnten. Repräsentativ sei diese Studie jedoch nicht, sodass es keine gesicherten Daten zur Situation für die gesamte Bundesrepublik gibt.
„Internetsucht“- Was ist das überhaupt?
Der Begriff Internetsucht wurde 1995 von dem amerikanischen Psychiater Ivan Goldberg als Scheindiagnose erfunden. Der Ausdruck selbst ist allerdings umstritten, weil noch nicht geklärt ist, ob es sich dabei um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt. Häufig wird auch von Internetabhängigkeit, Internet-Abhängigkeits-Syndrom oder pathologischer Internetnutzung gesprochen. Eine einheitliche Definition von Internetabhängigkeit gibt es nicht, dafür aber bestimmte Kriterien, die auf Abhängigkeit hinweisen können. Auch „die“ Internetsucht gibt es nicht, da es meist nur einzelne Angebote sind, die besonders häufig genutzt werden. Bei Mädchen und jungen Frauen seien es vor allem Chatangebote, wohingegen man ihre männlichen Altersgenossen weniger auf eine bestimmte Anwendung festlegen kann. Doch Online-Spiele würden von Jugendlichen häufig exzessiv genutzt, wie Meixner in ihrer Studie hervorhebt.
Welche Ursachen und Folgen gibt es?
Zu den Ursachen von Internetabhängigkeit gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Einige Forscher wie beispielsweise André Hahn und Matthias Jerusalem von der HU Berlin gehen davon aus, dass der Reiz des Internets für Jugendliche darin bestehen könnte, dass es sie bei ihrer Ich-Findung unterstützt. In Chats und Online-Spielen können die jungen Nutzer problemlos in verschiedene Identitäten schlüpfen und unterschiedliche Persönlichkeiten ausprobieren, was ihnen im realen Leben nicht möglich ist. Durch die Anonymität des Netzes können sie in Chats und Foren offener über ihre körperlichen, psychischen und sozialen Probleme sprechen und Gleichgesinnte finden. Wie auch Sabine Meixner sind andere Wissenschaftler der Meinung, dass Realitätsflucht ein häufiger Grund ist. So werden beispielsweise soziale Probleme oder Schwierigkeiten in der Schule durch das Internet kompensiert. Auch kann die Suche nach Anerkennung, die den Jugendlichen im realen Leben fehlt, pathologischen Internetgebrauch begünstigen. Das stellten die amerikanischen Forscher Kimberly Young und Robert Rodgers in einer bereits 1998 veröffentlichten Studie heraus, in der sie nach einer Verbindung zwischen Online-Nutzungsweise und Depressionen forschten. In diesem Sinn könnte man Internetabhängigkeit eher als Symptom für depressive Verstimmungen oder unbewältigte Probleme des Alltags verstehen. Auch die Folgen von Internetabhängigkeit sind umstritten. Einrichtungen, die eine Behandlung von pathologischem Internetgebrauch anbieten, nennen als häufigste Beschwerden von exzessiven Internetnutzern depressive Stimmungen und soziale Ängste. Fraglich ist allerdings, ob es sich hierbei um Folgen des exzessiven Internetkonsums handelt oder ob diese Beschwerden vielmehr erst zur Internetabhängigkeit geführt haben.
Patti Valkenburg und Jochen Peter von der Universität Amsterdam verweisen in ihrer 2009 veröffentlichten Übersichtsarbeit „Social Consequences of the Internet for Adolescents“ auf neuere Untersuchungen, in denen festgestellt wurde, dass Jugendliche mit intensiver Internetnutzung vor allem bereits existierende Kontakte pflegen. Über Instant Messenger und soziale Netzwerke, welche die Mehrheit der Jugendlichen heute benutzen würden, falle es ihnen leichter, über Gefühle zu reden und Unsicherheiten zuzugeben. Auf diese Weise ließen sich bestehende Freundschaften vertiefen.
Woran erkenne ich, ob mein Kind abhängig ist?
Wenn es um die Frage geht, ob das Internetnutzungsverhalten einen zwanghaften und schädigenden Charakter hat, darf es Eltern nicht nur darum gehen, wie viel Zeit ihre Kinder im Internet verbringen. Viele Dinge können heute über das Internet bequem von zuhause erledigt werden, die früher weite Wege erfordert haben. Briefe werden nicht mehr postalisch verschickt, zur Hausaufgabenrecherche muss man nicht mehr in die nächstgelegene Bibliothek gehen und mit Freunden können Nutzer auch über Instant Messenger wie icq kommunizieren. Matthias Jerusalem und André Hahn haben eine Reihe von Kriterien entwickelt, mit denen Internetabhängigkeit bestimmt werden kann. Dazu gehören neben der über einen langen Zeitraum sehr hohen Nutzungsdauer auch, dass die Jugendlichen die Kontrolle über ihre Internetnutzung verloren haben und unter Entzugserscheinungen leiden, wenn sie längere Zeit auf das Internet verzichten müssen. Einige davon sind zum Beispiel Nervosität, Gereiztheit und Aggressivität, sowie das Verlangen nach erneuter Internetnutzung. Als weitere Kriterien für zwanghafte Internetnutzung nennen die Forscher die ständige Ausdehnung der Internetnutzungsdauer, um eine positive Stimmungslage zu erreichen und die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche wie Schule oder Freunde.
Was kann ich tun, wenn mein Kind abhängig ist?
Eltern sehen sich beim Thema Internetabhängigkeit vor allem mit Fragen nach Vorbeugung und Gegenmaßnahmen konfrontiert. Diese Fragen können hier jedoch nur im Ansatz behandelt werden und keinesfalls ein psychologisches Beratungsgespräch ersetzen. Um die Behandlungsmöglichkeiten bestimmen zu können, müssen erst die Ursachen der Abhängigkeit geklärt werden. Die Seite internet-abc.de, die von der Landesanstalt für Medien NRW betrieben wird, empfiehlt Eltern, offen und ohne Vorwürfe oder andere Wertungen mit ihrem Kind über seinen Internetkonsum zu reden. Dabei sollten auch die Gefahren von Internetabhängigkeit ein Gesprächsthema sein. Der Diplom-Psychologe Kai Müller, der sich an der Universitätsklinik Mainz mit dem Phänomen befasst, rät dazu, alternative Freizeitmöglichkeiten wie zum Beispiel in Sportvereinen zu fördern. Um zu verhindern, dass ein Kind überhaupt erst abhängig wird, sehen Fachleute vor allem die Notwendigkeit darin, Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet zu vermitteln. Dabei hält es Matthias Petzold, Familienpsychologe an der Universität Düsseldorf, für wichtig, junge Nutzer bei ihren ersten Schritten im Internet zu begleiten und sie über die Gefahren aufzuklären Auch zu regeln, wann, wie lange und für was das Kind das Internet benutzen darf, ist sinnvoll, um ihm einen maßvollen Umgang zu ermöglichen. Das funktioniert jedoch nur, wenn das Kind über keinen eigenen Internetzugang im Zimmer verfügt. Die Stiftung Medien- und Online Sucht empfiehlt beispielsweise, Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren keinen Computer, Fernseher und andere Bildschirmgeräte ins Kinderzimmer zu stellen.
Weiterhelfen können auch therapeutische Ansprechpartner und Beratungsstellen, die unter folgenden Links zu finden sind:
Maria Samantha Schwarz
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